Ich sitze im Kleinbus einer Hilfsorganisation auf dem Weg nach Accra in Ghana. Gerade haben wir eine Schule mitten im Busch besucht: Staubige Straßen, afrikanische Farben, Kinder, die in einer verfallenen Farm begeistert lernen – alle diese Eindrücke klingen in mir nach. Mit den anderen Reisenden teile ich meine Beobachtungen. Als ich die Worte „authentisch leben“ ausspreche, unterbricht mich der Leiter der Organisation und sagt aufgebracht: „Das kann ich nicht mehr hören.

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In der Praxis entbehrt dieses ganze Gerede von Authentizität doch jeglicher Bodenhaftung. Es gibt Verpflichtungen, Rahmenbedingungen und Notwendigkeiten, die zu einer beruflichen Rolle gehören, und die müssen getan werden, ob ich mich danach fühle oder nicht.“ Das löst in mir die Frage aus: Was verstehe ich eigentlich unter authentisch?

Ein paar Wochen später telefoniere ich mit einem leitenden Angestellten über unseren Beratungsbrief „Authentisch leben“ und höre von ihm: „Der eine oder andere Artikel in Ihrem Brief ist ja ganz nett. Doch schon in unserem BWL-Studium haben wir gelernt, wie es im Berufsalltag funktioniert: Als Chef musst du sagen, wo es lang geht – ohne Diskussion.“

Ich frage mich: Meint „authentisch leben“ immer nach seiner momentanen Stimmung zu leben, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ob es passt oder nicht, auszusprechen, was immer mir in den Kopf kommt, in allen Lebenslagen, ob in der Familie, mit Freunden oder Kollegen, die eigenen Interessen, Wünsche und Ziele durchzusetzten? Dann kann ich gut verstehen, dass Führungskräfte nicht gerade begeistert sind.

Vielleicht ist es tatsächlich unmöglich, „authentisch“ zu leben? Gibt es Umstände, die nicht zulassen, dass ich stimmig mit mir lebe? Schon in mir selbst sind ja verschiedene Stimmen, Gefühlslagen und Zielvorstellungen. Wie soll ich da erkennen, was das Echte ist? Ein kurzer Blick in die Wikipedia zur wörtlichen Bedeutung: echt, verbürgt, zuverlässig, „als Original“ befunden. Was meine ich also, wenn ich mir ein authentisches Leben auf die Fahne schreibe? Welche Werte verbinde ich mit authentischem Leben?

Anderen etwas gönnen

Ich erinnere mich an ein Gespräch bei einer Qualitätsschulung für Farb- und Stilberater.

Während des Mittagessens fragte eine Beraterin ihre Kollegin: „Wie viele Beratungen hattest du im letzten Jahr?“ Sie antwortete: „Etwa 70.“ Darauf reagierte die erste Beraterin spontan: „Klar, bei deinem Äußeren ist das ja kein Wunder. Du lebst in einer Großstadt mit einem großen Einzugsgebiet und außerdem hast du keine drei Kinder.“ Im direkten Vergleich schnitt sie schlecht ab – denn sie hatte nur um die 20 Beratungstermine in diesem Zeitraum. Aber der Vergleich hinkt. Denn wenn die Beraterin ihre eigene Lebensgeschichte anschaut, hat sie nach ihrem sinnvollen Maß und ihren Möglichkeiten gute Arbeit geleistet.

Authentisches Leben fordert mich heraus, mich nicht mit andern und deren Möglichkeiten zu vergleichen. Wenn ich Ziele anstrebe und erreiche, die stimmig zu mir und meinen Möglichkeiten passen, erfüllt mich dies mit Dankbarkeit. Dankbar und im Frieden mit meinen Leben gelingt es mir, anderen zu gönnen, was ihnen gelingt. Ich stelle mir nochmal die Gesprächsszene vor und überlege mir eine authentische Antwort. „Wie ist dir das gelungen? Du hast mutig und fleißig umgesetzt, was wir gelernt haben und sicher hat das viel Freude gemacht. Ich empfinde tiefen Respekt. Du motivierst mich mehr Beratungen anzustreben und darüber nachzudenken, wie mir das gelingen könnte.“

Vielleicht machen sich auch innere Stimmen von früher bemerkbar, die mir einreden wollen: Du bist nicht gut genug, schau doch, andere sind besser.  Solche Geheimagenten können mich antreiben, immer mehr zu wollen und doch nicht zufrieden zu sein. Da kann mich in manchen Situationen der Neid schon erwischen. Gut, wenn sie enttarnt werden.

Meine Berufung leben

Beim Nachdenken über authentisches Leben merke ich: Meine eigenen Erwartungen und die von andern überfordern mich ab und zu. Manchmal fühle ich mich wie in einem Hamsterrad. Wenn ich z. B. nach einem zehnstündigen Seminartag nach Hause komme, blinkt der Anrufbeantworter, Mails warten im Posteingang, Rückrufe und wichtige Terminabsprachen sind zu erledigen und ich möchte mit meinem Mann gemütlich essen und ihm zuhören. Berechtigte Bedürfnisse und zu lösende Aufgaben sollen möglichst gleichzeitig und jetzt erfüllt werden. In solchen Momenten fühle ich mich getrieben. Ich bin ganz bei den anderen und reagiere.

Mir hilft es, mich erst mal zehn Minuten zurückzuziehen, um bei mir anzukommen, weg von allen Medien und den Menschen. Vielleicht zünde ich eine Kerze an, schaue in die Flamme, bis ich mich wieder innerlich spüre, und lasse Worte aus dem Abendgebet des irischen Gebetsbuches in mein Herz fallen und spreche sie ganz ruhig nach. Langsam spüre ich wieder mein Herz, die Anforderungen lösen sich, mein Atem wird tiefer und ruhiger. Ich fühle mich wieder zugehörig zu einer größeren Geschichte, in der ich Bedeutung habe. Es durchströmt mich Sinnhaftigkeit, ich fühle mich aufgerichtet, neue Kraft steigt auf und Ideen, wie ich den anstehenden Aufgaben begegnen kann. Mir ist bewusst, dass ich nicht allem gerecht werden kann, und ich fühle mich versöhnt mit meinen Grenzen.

Authentisch leben bedeutet für mich nicht, ziellos einfach allem nachzulaufen, was sich aufdrängt und wichtig tut und mir vorgaukelt, unbedingt notwendig zu sein, sondern aus innerer Motivation zielgerichtet zu handeln. Doch das gelingt nicht immer.

Mir selbst treu sein

Ich kann mich noch gut an die Zerrissenheit erinnern, die ich empfand, wenn ich als Industriekauffrau abends nach Hause kam. Natürlich wollte ich meine Aufgaben optimal erfüllen. Dazu hatte ich „Ja“ gesagt, dafür wurde ich bezahlt und ich würde alles lernen und tun, was nötig ist. Nach und nach beherrschte mich der Gedanke: Hier darfst du auf keinen Fall Fehler oder Schwächen eingestehen, du musst immer souverän wirken und möglichst schneller als erwartet und mehr als andere leisten. Das gelang auch eine gewisse Zeit. Ich rutschte, ohne es zu merken, in die Rolle des „Mädchens für alles“. Irgendwann beschwerte ich mich darüber, dass ich laufend gestört würde und alle etwas von mir wollten. Ja, ich war eine gute Arbeitskraft. Gleichzeitig hatte ich morgens immer mehr Mühe aufzustehen und mir wurde dieses Berufsleben lästig.

An einem Abend lass ich mit Freunden in der Bibel. Ein Vers rüttelte mich wach: „Alles was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht für Menschen.“

Stimmt, dachte ich, im beruflichen Alltag richtete ich mich voll auf die anderen aus und hatte Angst zu versagen oder zu enttäuschen. Dabei verlor ich den Kontakt zu meinem Herzen. Ich schrieb mir diesen Satz auf einen Zettel und legte ihn unter meine Schreibtischunterlage.

Jetzt begann eine wichtige Lernstrecke in Sachen Authentizität. Plötzlich stellte ich mir viele Fragen. Nach und nach fand ich heraus, dass zwei Dinge mein Leben ausmachen – gute Beziehungen und schöpferisches Arbeiten. In kleinen Versuchen fing ich an, meinen Kollegen ehrlich Grenzen zu setzen, weigerte mich unnötige Floskeln und „Lügen“ am Telefon einfach weiterzugeben, sagte es auch, wenn andere mir etwas unterschieben wollten. Ich übte konkret, mir selbst treu zu sein. Interessanterweise entspannte sich im Laufe dieser Zeit tatsächlich das Klima in der Abteilung.

Die digitale Datenverarbeitung wurde in unserer Firma eingeführt und ich wurde zum Pionierteam eingeladen. Die Auszubildenden suchten gern und oft Kontakt zu mir. Mein Herz war lebendig. Es machte mir große Freude, Neues zu lernen und mit andern diese neue Welt aufzubauen. Manchmal fühlte ich mich wie auf einem Planwagen der Einwanderer, die gen Westen zogen. Gerne gab ich meine Kenntnisse an andere weiter. Es führte in der Konsequenz dazu, dass ich mich aufmachte, um zu studieren und eine neue berufliche Richtung einzuschlagen, die bis heute für mich stimmig geblieben ist.

Auf meiner Lebensreise wurden diese Erfahrungen zu wichtigen Meilensteinen und ich lernte: Wenn ich Erwartungen zu viel Macht gebe, laufe ich Gefahr, in Rollen zu geraten, die mir nicht gut tun. Das Berufsleben ist nicht nur dazu da, um Geld zu verdienen. Es ist Teil einer wichtigen Aufgabe, diese Erde zu bebauen und zu bewahren, damit alle darin ihren Platz finden und alles, was sie zum Leben brauchen. Das ist der tiefere Sinn. Jeder trägt dazu bei. Es ist nicht egal, welchen Beitrag er einbringt, nach dem Motto: „Hauptsache die Arbeit ist erledigt“. Es geht darum gemäß seinem inneren Menschen und seinen Fähigkeiten an einer Aufgabe mitzugestalten, die sowohl inneres Wachsen und Reifen als auch die nötigen Finanzen für das äußere Leben bringt. Das gelingt nicht immer und nicht hundertprozentig. Es gibt auch heute noch Tage an denen ich schwer aus dem Bett komme. Wichtig ist es, auf dem Weg zu sein.

Lebenslang reifen

Authentisch leben bedeutet für mich nicht, nervtötende Gewohnheiten, Schlamperei oder unpassende Gefühlsäußerungen mit der Begründung zu kultivieren: „So bin ich halt, du musst mich so nehmen, wie ich bin.“ Niemand würde einen unausgegorenen Wein trinken mit dem Argument: „So ist er halt“, wenn er nicht schmeckt. Gerade der Reifungsprozess entwickelt den Charakter des Weines und macht ihn zu dem, was er ist

Ganz ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, dass Verhaltensweisen, die andere Menschen herabsetzen oder Ziele unerreichbar machen, attraktiv sind. Ich erinnere mich an die goldene Regel: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Das könnte für mich eine Leitplanke zu authentischem Leben sein. Mir selbst treu zu sein, schließt das Wachsen und Reifen mit ein. Auf der Lebensreise werde ich immer mehr zu der Person, die ich im tiefsten Grund bin.

Begeistert leben

Nach meiner Erfahrung geben uns gute Gewohnheiten, Abläufe, Strukturen und sinnvolle Führungsebenen die nötige Sicherheit und bieten uns den Raum, in dem wir gestalten und wirtschaften können. Der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther vertritt die These, dass wir in einer Zeit leben, in der diese Strukturen von außen zunehmend durchlässig werden. Noch vor drei Generationen waren die äußeren Gegebenheiten klar und gaben die persönliche Entwicklung vor, ähnlich wie der Panzer des Maikäfers seinem Inneren die Form gibt.

Ich beobachte heute: Je vielschichtiger und unbeständiger klare Vorgaben werden, desto mehr brauchen wir innere Haltungen, um gesund zu leben. Deshalb reicht es nicht aus, einfach nur Formen zu pflegen, sondern wir müssen wieder den Geist entfachen, der die Formen hervorgebracht hat. In uns muss brennen, was wir gestalten wollen. Der Soziologe Antonovsky sagt: „ Menschen müssen die innere Überzeugung gewinnen, dass Ihre Welt im Großen und Ganzen verstehbar, gestaltbar und sinnhaft ist.“

In meinem Seminaralltag beobachte ich einen starken Wandel: Bis vor drei Jahren war das Jahr gut planbar: Die meisten Anmeldungen kamen frühzeitig. Referenten und Büro hatten klare Abläufe. Heute ist oft bis kurz vor Seminarbeginn noch nicht klar, wer dabei sein wird, die Themen wechseln häufiger und es bleibt spannend, was morgen kommen wird.

Integriert leben

Unterschiedliche Welten, Anforderungen und Wertvorstellungen finde ich auch in mir selbst. Ein Teil in mir möchte erfolgreich Karriere machen, ein anderer möchte am liebsten irgendwo auf einer Insel einfach nur leben. Ein Teil wünscht sich Familie und ein anderer möchte unabhängig sein und irgendwo da draußen Abenteuer erleben.

Auf der Suche nach authentischem Leben machen sich viele Facetten bemerkbar. Wie kann es gelingen, meine ambivalente Stimmen dazu zu bringen in einem Chor zu singen und jeweils an der passenden Stelle den Ton anzugeben?

In die Stille finden

Je älter ich werde desto mehr merke ist: Es braucht Zeiten in denen ich Ruhe finde, nach innen höre, meinen inneren Stimmen zuhöre. In der Stille kann sich alles wieder ordnen und sortieren zu einer beglückenden Symphonie. Außerdem höre ich Gottes Worte, die mich neu ausrichten und zu guten Quellen führen. In der Natur zur Ruhe zu kommen, hilft meinen Sinnen tiefer zu sehen. In der Stille Mir helfen ein gewisser Tagesrhythmus, Zeiten des Gebets, eine Pilgerreise, Reflexionszeiten, die dem Jahr einen Rhythmus geben und gute Beziehungen. Auch gute Literatur und Musik sind wertvolle Wegbegleiter.

Mein Fazit: Es kann schon sein, das meine Wertvorstellungen etwas idealistisch erscheinen. Aber es ist lohnenswert, sich auf die Herausforderungen eines authentischen Lebens einzulassen, um innerlich gesund zu werden.

Wie Sie das machen, zeige ich Ihnen gerne im Rahmen unserer Jahresreise auf dem Gutshof. Sie beginnt am 23. Februar 2018. Wir haben noch Plätze frei. Melden Sie sich direkt hier an.


Ilona Dörr-Wälde