Um 8.40 Uhr läutet die kleine Glocke an der Gutshofkapelle. Ihr Klang ruft in das Hier und Jetzt. Er sagt: „Halte inne, höre und spüre das Echo in Deinem Innern“. Mich erinnert sie an die Kirchenglocken, die mich schon als Kind berührt haben.

Foto: Janine Guldener

Auftanken im Raum der Stille

Gallus, ein irischer Mönch, läutete mit einer Handglocke, wenn er in einen Ort kam. Menschen versammelten sich und stellten sich auf die geistliche Welt ein. Inspiriert von diesem Vorbild und dem tief verwurzelten Bild der Kirchenglocken, läute ich die Glocke.

Dann trete ich ein in die Kapelle, den Raum der Stille. Ich zünde die Kerze auf dem Altar an und setze mich auf die Bank. Im Moment bin ich noch allein und zugegeben noch ganz in Gedanken. Warum mache ich das eigentlich?

Gott, die Wirklichkeit hinter dem Sichtbaren, ist doch überall und immer gegenwärtig. Wenn ich davon ausgehe, dass es ihn gibt, ist er direkt und unabhängig von Zeit und Ort ansprechbar. Wofür sitze ich jetzt hier? Ich höre Schritte, die näher kommen. Ich lasse diese Gedanken los und warte bis alle angekommen sind.

Wie innere Verbundenheit entsteht

Heute sind wir zu fünft, manchmal sind alle Bänke besetzt, und manchmal bin ich alleine. Rainer und ich, Freunde, Mitarbeiter, Seminarteilnehmer und ab und zu auch Menschen aus unserem Dorf versammeln sich. Es ist jeden Tag anders und es ist gut so. Ein Gefühl der Verbundenheit macht sich bemerkbar. Wie kostbar sind mir diese Momente der Gemeinschaft geworden.

Wieder wollen sich Gedanken breit machen. Mit einem Blick zur Kerze lade ich ein in die Stille zu kommen. Für einen Moment alle Gedanken loszulassen, innerlich ruhig zu werden. Nach einer Weile sprechen wir den ersten Teil des Morgengebetes: „Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich, im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in seinem Tempel.“

Die Gedanken können in der Ruhe bleiben. Es ist nicht nötig eigene Worte zu formulieren. Der Klang der gegenseitig zugesprochenen Worte einfach auf sich wirken lassen und nur da sein. Vielleicht so ähnlich wie die Kleider ausziehen, in die Badewanne steigen und im warmen Wasser einfach entspannen.

Die Schätze eines erfüllten Lebens

Wir sprechen eine Strophe von einem Lied aus uralten Zeiten. Die Sprache und die Bildwelt scheinen von einer vergangenen Welt zu stammen. Können wir damit heute überhaupt noch was anfangen? Wenn ich im Kopf bleibe und über die Worte nachdenke, dann brauchen sie eine Übersetzung. Vielleicht könnte man es so sagen. Ich bitte den Experten des Lebens, mir seine Welt zu öffnen, um in diesem Moment Schätze des erfüllten Lebens zu sehen, um aus dieser inneren Sichtweise meinen Alltag zu gestalten.

Irgendwann könnte tatsächlich ein Morgengebet neu geschrieben werden. Meine Nachbarin sagt, diese alten Worte haben eine ganz besondere Wirkung, ich muss sie doch gar nicht auf den ersten Blick verstehen. Es geht eher darum den Geist der Worte an sich wirken zu lassen, als darüber nachzudenken. Das bringt es auf den Punkt.

Wir sprechen oder singen den zweiten Absatz aus dem Morgengebet:

„Wer ist es den ihr sucht?“ – „Wir suchen den Herrn unsern Gott.“

„Sucht ihr ihn von ganzem Herzen?“  – „Amen, Herr erbarme dich.“

„Sucht ihr ihn von ganzer Seele?“- „Amen, Herr erbarme dich.“

„Sucht ihr ihn mit all euren Gedanken?“- Amen, Herr erbarme dich.“

„Sucht ihr ihn mit eurer ganzen Kraft?“- „Amen, Christus erbarme Dich.“

Dahinter verbirgt sich eine geistliche Übung, die Mönche kultiviert haben.

Mit dem Einatmen spreche ich Amen und nehme die tiefere, göttliche Wirklichkeit auf. Mit dem Ausatmen – Herr erbarme dich – atme ich Belastendes, Fragen, Unruhe oder ähnliches aus, in seine liebevolle Gegenwart. Manchmal kann ich tiefen Frieden und die belebende Kraft spüren.

Ausdruck eines erfüllten Lebensstils

Das irische Morgengebet ist für mich der Ausdruck eines Lebensstiles, der sich aus der Quelle des Lebens speist.

Eine Teilnehmerin spricht mich an und fragt nach Übungen, die helfen mehr aus der inneren Kraft zu leben. Nach ihrer Erfahrung gibt es im christlichen Bereich keine alltagstauglichen Übungen. Das hat mich wachgerüttelt. Stimmt, die Gegenwart des Lebendigen ist überall und braucht keine bestimmten Formen, aber wir sind nicht immer gegenwärtig. Deshalb lade ich Sie ein auf Spurensuche zu gehen, nach Ritualen, die Ihnen im Alltag helfen, sich auf Wesentliches zu fokussieren.

Auf www.doerr-waelde.de finden Sie dazu Anregungen. Falls Sie Interesse haben ihren Lebensstil mehr auf die Stille auszurichten lade ich Sie zu einem Schnupperwochenende ein.

Vielleicht gönnen Sie sich im kommenden Jahr sogar vier Wochenenden, in denen sie bewusst, die Reflektion und den Austausch suchen, um neue Quellen für Ihr Leben zu erschließen.


Ilona Dörr-Wälde