Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar, antwortet eine Stimme durch das Handy.  Eigentlich will ich das nicht hören. Ich möchte mit einer Person eine Verabredung treffen und einen Punkt auf meiner To do-Liste streichen. Jetzt muss ich warten. Das ärgert mich. Kennen sie auch diese Erwartung, alles und jeden immer sofort zu erreichen?

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Wie komme ich eigentlich darauf. Gesundes Leben hat einen Rhythmus von Tag und Nacht, Sommer und Winter und von aktiven und passiven Zeiten. Dank des elektrischen Lichts kann ich Tag und Nacht arbeiten und ich bin rund um die Uhr auf dem ganzen Globus erreichbar, zumindest technisch.

In den letzten Tagen denke ich wieder neu nach, wie ich erreichbar sein möchte. Mein Mann und ich sind in den Gutshof eingezogen. So lange haben wir davon geträumt. Wir wollen Leben und Arbeiten an einem Ort. Durch die räumliche Veränderung, ist in den ersten Wochen unser eingeübter Rhythmus von Ruhe und Arbeit durcheinandergeraten. Je weniger ich mir selbst Ruhezeiten gönne desto mehr erwarte ich von anderen „unmenschliches“.

Ebbe und Flut – Die Geschichte von Saint Aidan

Es wird höchste Zeit, dass ich mich an die Geschichte von Aidan erinnere. Sie hat mir schon vor Jahren wertvolle Tipps in Sachen Erreichbarkeit gegeben.

Obwohl Aidan in einem Schloss leben könnte, wählt er eine Gezeiteninsel als Standort.

Auf der schottischen Insel Iona lernten sich Aidan, ein irischer Mönch und Oswald der König von Northumberland kennen. 635 beruft der König seinen Freund Aidan an den Hof. In den unruhigen Zeiten soll Aidan die Bewohner in seinem Land im christlichen Glauben anleiten. Doch Aidan will nicht am Hof leben. Er kommt von der Insel und will wieder auf eine Insel. Deshalb wählt er Lindisfarne für seine neue Wirkungsstätte. Von dieser Insel aus hat er das politische Zentrum im Blick. Aber das Wasser trennt ihn von dem geschäftigen Treiben bei Hofe. Er wählt eine Gezeiteninsel. Bei Flut ist er nicht erreichbar. Wanderer und Fuhrwerke, die als Tagesgäste kommen, können während der Ebbe anreisen und verlassen die Insel vor Anbruch der nächsten Flut, um noch nach Hause zu kommen. Auf diese Weise ist seine Erreichbarkeit für ungeplantes begrenzt. Er betet: „Wenn die Ebbe kommt, so bereite du mich auf meine Aufgabe in der hektischen Welt, auf der anderen Seite vor. Diese Welt, die auf mich einstürzt. Bis die Flut wieder steigt und mich wieder mit dir zusammenbringt.“

Gerade in dieser Stille, die Aidan so schätzt, entwickelt sich das Feuer des irischen Glaubens zu einem Zentrum der Heilung und Kraft. Lindisfarne gilt neben Iona als bedeutendste Klostergründung in Britanien und wurde ein Zentrum für Kunst und Kultur. Mönche ziehen von dieser Insel ins ganze Land. Sie genießen einen guten Ruf in der Bevölkerung, weil sie freundlich und wirksam lehren und segnen. Lebensbedingungen verbessern sich nachhaltig.

Im Kopf weiß ich ganz genau, dass Ruhezeiten unerlässlich sind. Pausenlos arbeiten und allen Stimmen gerecht werden wollen, bedeutet nicht automatisch mehr erfolgreich zu sein. In zweifacher Hinsicht merke ich, wie das Thema Erreichbarkeit für mich aus den Fugen geraten ist

Was ist, wenn ich nicht erreichbar bin?

Sowohl die Umstellung des Telefonanschlusses als auch der Internetzugang waren eine Herausforderung. Wochen vor dem Umzug laufen die Bemühungen, möglichst ohne Lücke erreichbar zu bleiben. Doch dann passiert es doch. Über zwei Wochen klappte die Telefonverbindung nicht.  Einige versuchen vergebens uns zu erreichen. In mir wurde das schlechte Gewissen immer stärker. Was ist, wenn ich Anrufe verpasse? Befürchtungen melden sich wie, ich enttäusche Menschen – vielleicht gehen wichtige Kontakte oder sogar Aufträge verloren. Wenn das noch lange so geht halten mich Menschen für unzuverlässig und ich verliere Ihr Vertrauen. So abgeschnitten von der Außenwelt verpasse ich entscheidende Informationen und gerate ins Abseits. Es war interessant meine inneren Antreiber und Werte zu erleben. Das trieb mich dazu noch mehr Arbeit in einen Tag zu packen, um möglichst allem gerecht zu werden und so schnell wie möglich wieder die Ordnung herzustellen, die mir hilft verfügbar zu sein.

Weisheit der Zeit

Die Geschichte von Aidan half mir meine Befürchtungen zu überwinden. Ebbe hat seine Zeit und Flut hat seine Zeit. Wenn das ganze private und berufliche Leben auf Lastwagen gepackt und wieder neu aufgebaut wird an einem wunderschönen Ort, möchte ich diese besondere Zeit genießen. Aidan hatte für beides Leidenschaft. Den Menschen zu dienen und für sie da zu sein. Gleichzeitig genießt er die Zeiten, in denen er unerreichbar ist, da das Wasser den Weg auf die Insel versperrt. Ich führe mir vor Augen wie wertvoll dieser Neuanfang ist. Ich erkenne an, dass es eine Zeit ist, die besondere Kraftanstrengung bedeutet. Es gibt herausgehobene Zeiten, die meine Erreichbarkeit einschränken. Meine Eltern brachten mir noch bei, dass es Zeiten gibt, an denen man andere nicht stört. Diese Zeiten waren allgemein anerkannt.  In der Mittagspause von 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr, sonntags von 12.- 15.00 Uhr oder nach Feierabend war es klar, dass Menschen nicht erreichbar sind. Niemand hat ein schlechtes Gewissen, weil er unerreichbar ist und ärgert sich nicht, weil er niemanden erreicht. Diese Zeiten dienen dazu, dass das ganze Leben im Blick bleibt und die Arbeitszeiten effektiv genutzt werden können.

Weisheit des Auftrages

Aidan wusste, wofür der König ihn gerufen hat und gestaltet seine Erreichbarkeit nach seinem Auftrag. In der Gutshofakademie sollen Menschen neue Kraft finden und ein gutes Lernklima antreffen. Es ist unser Auftrag einen wohltuenden Ort zu gestalten. Wenn der größere Zusammenhang aus dem Blick gerät, erscheint es sinnlos immer nur Kisten auszupacken. Idealbilder gaukeln mir vor, wie alles perfekt zu sein hat. Im Alltag sind es viele kleine Schritte und nicht alles klappt, wie man sich das vorgestellt hat. Deshalb erkenne ich bewusst meine Grenzen an. Ich bin nicht für allen und jeden zuständig. Ganz neu stelle ich mir die Frage, wer bin ich und was konkret ist meine Aufgabe. Ich lasse meine überzogenen Idealvorstellungen von mir und anderen los. Nach und nach sehe ich die richtigen Prioritäten. Jeden Morgen ordnen mein Mann und ich die Aufgaben für den Tag. Dabei stelle ich mir die Frage, was kann nur ich heute tun und dafür bin ich erreichbar.

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Weisheit des Ortes

Während ich den Artikel schreibe erwischt es mich kalt. Zum fünften Mal klingelt es und ein Paketdienst steht vor der Tür. Unsere neue Mitarbeiterin hat einiges bestellt und veranlasst vor dem ersten Seminar am Wochenende. Da die Hausnummern und Markierungen fehlen können die Postboten und Dienstleister nicht erkennen, dass Sie die zuständigen Ansprechpartner für die Gutshofakademie im gegenüberliegenden Gebäude finden. Deshalb klingeln sie an der ersten Tür. Der Morgen geht vorüber und der Artikel ist nicht geschrieben. Wie weise war Aidan, dass er nicht ins das Machtzentrum gezogen ist. Welche Erwartungen lösen ein solcher Ort aus? Das bescheidene Anwesen auf der Insel machte nonverbal deutlich wofür er erreichbar ist und wofür nicht. Die nonverbale Kommunikation des Standortes weckt Erwartungen. Wir brauchen dringend die Beschilderung, damit sofort erkennbar ist wer, wofür erreichbar ist.

Weisheit der Verfügbarkeit

Einerseits stelle ich mir die Frage, für was, ich wann und wo erreichbar bin. Andererseits fordert mich der Lebensstil im Rhythmus der Gezeiten heraus ein hörendes Herz zu entwickeln. Bin ich für mich selbst, für vertraute Menschen und Gott erreichbar? Während des Umzuges überraschte mich, dass es Momente gab, in denen ich ganz ruhig war. Die Stimme des Geistes gab mir oft Kraft und Zuversicht. Obwohl die Ruhephasen eindeutig zu kurz kamen, fand ich doch innerlich immer wieder Ruhe. Sehnsucht nach Zeiten der Ruhe und wesentlichem meldet sich. Schritt für Schritt finden sie in unserem neuen Leben wieder Ihren Raum. Ich möchte für das wesentliche Verfügbar sein auch außerplanmäßig. Eine erschütternde Erfahrung mahnt mich auf das Herz zu hören. Kurz vor dem neunzigsten Geburtstag meines Vaters rief er mich an und bat mich sofort bei ihm vorbeizukommen. Ich hatte eine Woche Urlaub eingeplant, um seine Geburtstagsfeier vorzubereiten und mit meinen Eltern Zeit zu verbringen. Deshalb vertröstete ich ihn auf die kommende Woche. Leider ist mein Vater gestorben und ich konnte ihn nicht mehr sprechen. Anstatt inne zu halten und zu hören dachte ich nur an meinem Plan.


Ilona Dörr-Wälde